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Standpunkt 534, 4. Februar 2022

Die Zeitung der Wirtschaftskammer Baselland

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2 | Standpunkt der Wirtschaft VERKEHRSPOLITIK 4. Februar 2022 MOBILITÄT – Mit der Bewilligung durch den Regierungsrat von entsprechenden Abschnitten in Bottmingen, Oberwil, Therwil und Maisprach ist im Baselbiet eine Kontroverse um Tempo 30 auf Kantonsstrassen entbrannt. Auch in weiteren Gemeinden wie Birsfelden, Binningen, Oltingen, Münchenstein und Liestal wird über Tempo 30 nachgedacht. Eine praxisfremde 180-Grad-Wende Der Baselbieter Regierungsrat hat am 19. Januar verschiedene Tempo- 30-Abschnitte auf Kantonsstrassen in Bottmingen, Oberwil, Therwil und Maisprach bewilligt. Das neue Tempolimit soll im zweiten Quartal dieses Jahres eingeführt werden. Diese vier Gemeinden sind die ersten, deren Anträge (teilweise) bewilligt wurden. In Warteposition sind weitere Gemeinden wie Birsfelden, Binningen, Oltingen, Münchenstein und Liestal. Dieser Entscheid ist eine 180-Grad-Wende für den Kanton Basel-Landschaft. Unter Regierungsrätin Sabine Pegoraro (2003 bis 2019) sei Tempo 30 auf Kantonsstrassen kein Thema gewesen, sagt Lukas Ott, Geschäftsführer der TCS Sektion beider Basel. Seit Kathrin Schweizer (SP) für das Geschäft zuständig ist, sei jedoch eine Trendwende spürbar. Überhaupt: «Bei Isaac Reber und Kathrin Schweizer gibt es wenig Gehör für unsere Anliegen», bedauert Ott. Während sich der VCS über Tempo 30 auf Kantonsstrassen freut, schüttelt man beim ACS und TCS den Kopf. «Eine Temporeduktion auf Hauptstrassen führt einerseits zu Ausweichverkehr in die Quartiere und behindert andererseits den ÖV und die Blaulicht-Organisationen», sagte ACS-Geschäftsführer Christian Greif zum Online-Portal «Prime News». Lukas Ott führt eine TCS- Mitgliederumfrage an, wonach «89,8 Prozent der Befragten gegen Tempo 30 auf Hauptstrassen sind». Hingegen seien 71 Prozent für Tempo 30 auf Quartierstrassen. Ott präzisiert, dass die Strassennetzhierarchie eingehalten werden müsse. Der TCS befürworte auf siedlungsorientierten Strassen Tempo 30. Auf den Hauptstrassen durch die Zentren müsse aber nach wie vor Tempo 50 gelten. Für diese Haltung gibt es gute Gründe. Da ist beispielsweise der Hier gilt bald Tempo 30: die Hauptstrasse in Oberwil. öffentliche Nahverkehr. BLT-Chef Andreas Büttiker sagte bereits letztes Jahr gegenüber der bz: «Ich bin nicht glücklich darüber, was jetzt aufgegleist wird.» Wenn Tempo 30 auf Hauptverkehrsachsen eingeführt werde, verlangsame das auch den öffentlichen Verkehr und verursache zusätzliche Kosten. Die Kompensationsmassnahmen zugunsten des ÖV, welche linke Kreise propagieren, hält er für Wunschdenken und fragt: «Wo soll es denn Ersatzflächen für eigene Busspuren haben?» Probleme für Notfalldienste Büttiker ist mit seinen Bedenken nicht alleine. Während man über Ideologie streiten darf, sind die Probleme für die Notfalldienste unbestritten. Feuerwehr, Sanität und Polizei sind auf schnelle Verkehrsanbindungen angewiesen, denn sie sind unterwegs zu Menschen, die rasch Hilfe benötigen. Laurent Wehrli, Präsident der Schweizerischen Feuerwehrverbände, sagt: «In unserem Beruf zählt jede Minute, um Leben zu retten. Eine allgemeine Einführung von Tempo 30 in Ortschaften wird unweigerlich unsere Einsatzzeit verlängern, insbesondere für freiwillige Feuerwehrleute oder zurückbeorderte Berufsfeuerwehrleute, die nicht über die vorrangigen Mittel verfügen, um zur Feuerwache zu gelangen. Das ist klar zum Nachteil der Opfer, die sich auf die Notdienste verlassen.» Lukas Ott bestätigt dies und fügt an: «Wenn es dann auch noch bauliche Massnahmen gibt, dann wird das ein Riesenproblem. Diese Massnahmen sind gesetzlich vorgeschrieben, wenn festgestellt wird, dass die Mehrheit der Benutzer Tempo 30 nicht einhält. Und das ist oft der Fall.» Man muss nicht Raketenwissenschaftler sein, um feststellen zu dürfen: Wenn es schnell gehen muss, ist ein Blumentrog auf der Strasse nicht die beste Idee. Lärm anders bekämpfen Bild: ph Bauliche Massnahmen zur Temporeduktion führen laut Ott auch zu mehr Lärm (Bremseffekt) und zu mehr Emissionen (Bremsen, Anfahren). Zudem werde bei Tempo 30 auch mehr Treibstoff verbraucht als bei Tempo 50. Das Thema Lärmbekämpfung durch Tempo 30 sieht der TCS grundsätzlich anders. Ott: «Der Regierungsrat behauptet, mit Tempo 30 könne eine Reduktion von 3,5 Dezibel erreicht werden. Das ist praxisfremd. In der Regel wird Tempo 40 gefahren, damit wird die angestrebte Reduktion schon einmal halbiert.» Er fordert, Alternativen zu prüfen: «Ein lärmarmer Belag bringt bis zu 6 Dezibel Lärmreduktion, also wesentlich mehr als Tempo 30.» Ein weiteres Beispiel für Innovation sind laut Ott lärmarme Pneus: «Wenn man dies fördern würde, könnte eine beträchtliche Lärmreduktion erzielt werden.» Der TCS sage seit Jahren, man solle auf technische Innovation setzen, nicht auf Verbote. Das Gewerbe ausgebremst Für das Gewerbe bedeutet Tempo 30 Zeitverlust. Es gibt durchaus Tageszeiten, in denen man aufgrund des Verkehrsaufkommens nicht schneller als 30 fahren kann. Aber wenn es möglich ist, sollte man es dürfen. «Eine Hauptstrasse mit wenig Verkehr, aber ich darf maximal 30 km/h fahren – das kostet Zeit und Geld» ist ein oft gehörter Satz aus dem Gewerbe, das sich bei der Mobilität einmal mehr ausgebremst fühlt. Intelligente Mobilität? Es gibt zuletzt noch einen weiteren Aspekt in Erinnerung zu rufen. 2020 hat die Stimmbevölkerung mit 60 Prozent Ja dem Ausbau des Hochleistungsstrassennetzes im Kanton Basel-Landschaft zugestimmt. Es war ein deutliches Ja zu weniger Stau und weniger Verkehr in den Ortschaften dank einer leistungsstarken und intelligenten Mobilität. Um dem steigenden Bedarf nach unterschiedlichen Verkehrsmitteln Rechnung zu tragen, muss das Verkehrsnetz des Kantons Basel-Landschaft weiterentwickelt werden, das ist wohl unbestritten. Denn die Mobilität im privaten Bereich und in der Wirtschaft nimmt zu. Ebenso die Erwartung, zügig von A nach B zu kommen und seine Dienstleistung oder sein Paket zeitnah zu erhalten. Ob Tempo 30 auf Kantonsstrassen und in Zentren Teil dieser Strategie sein kann – es ist zu bezweifeln. Eher dürfte das Gegenteil der Fall sein. Wie es nun weitergeht? Der TCS beider Basel hat, unterstützt von Mitgliedern, vergangenen Montag eine Beschwerde gegen den Entscheid des Regierungsrats eingelegt. Die Diskussion ist eröffnet. Patrick Herr AUSBAU – Die im Herbst 2020 angenommene HLS-Initiative harrt ihrer Umsetzung. Das Projekt für den Zubringer Bachgraben- Allschwil ist eine ungenügende Minimalvariante – das Komitee «Bachgraben plus» will eine bedürfnisorientierte Lösung. Tragfähige statt schmalspurige Lösung Am 27. September 2020 hat das Basel bieter Stimmvolk mit über 60-prozentiger Mehrheit die Initiative zum Ausbau des Hochleistungsstrassennetzes (HLS-Initiative) gutgeheissen. Dieser Auftrag des Souveräns an die Politik verlangt ein gesamtheitliches Verkehrskonzept für den Kanton, stärkeren Einsatz beim Bund für nötige Ausbauprojekte in unserer Region und das Aufgleisen von Verkehrsprojekten, die neben echten Verbesserungen für die Mobilität auch den (Ausweich-)Verkehr aus den Wohngebieten verbannt. Politischer Wille nicht umgesetzt Doch passiert ist seither viel zu wenig. Auf den halbjährlichen Bericht der Regierung, der im Strassengesetz seither verankert ist, und die Zusammenarbeit mit der Task Force «Anti- Stau», warten die Initianten bis heute vergeblich. Und von einem übergeordneten Verkehrskonzept, das schon 2015 (!) vom Landrat durch die Überweisung einer Motion von FDP-Landrat Christof Hiltmann «Strasseninfrastruktur-Konzept» gefordert worden war, fehlt nach wie Die Rue de Bâle ist Teil des Projekts «Zubringer Bachgraben». Bild: Archiv vor jede Spur. Die Baselbieter FDP- Landrätin Christine Frey hat deshalb jüngst mit einer Interpellation im Landrat nachgefragt, wie sich die Regierung die künftige Bearbeitung dieses für den Kanton wichtigen Dossiers vorstellt und wie der Stand beim Entwicklungsprogramm zum Ausbau der Hochleistungsstrassen aussieht. Ungeachtet einer fehlenden strategischen Grundlage hat die Baudirektion nun das Projekt für den Zubringer Allschwil vorgelegt. Es sieht eine Tunnellösung mit einer Röhre im Gegenverkehr vor – ein Bauwerk, das die heute bestehenden und in den kommenden Jahren durch die rasche Entwicklung des Wirtschaftsgebiets Bachgraben mit mehreren Tausend zusätzlichen Arbeitsplätzen noch wachsenden Verkehrsprobleme nicht wird lösen können, da die Kapazitäten zu gering sein werden. Eine Gruppe von sieben Landrätinnen und Landräten hat deshalb nach den Vorberatungen in der Bauund Planungskommission die Initiative ergriffen und in diesen Tagen mit Unterstützung der Wirtschaftskammer Baselland eine basisdemokratische Umfrage im Baselbiet lanciert. Das überparteiliche Komitee «Bachgraben plus» schlägt für den Zubringer Bachgraben-Allschwil einen Vierspurausbau mit zwei Tunnel röhren vor. Dies, um Nadelöhre zu den Anschlussstellen an die Autobahnen A2/A3 und A35 zu verhindern, die Verkehrssicherheit zu erhöhen und einen den künftigen Kapazitäten im Gewerbegebiet Bachgraben angemessenen Ausbau zu gewährleisten. Nur so kann verhindert werden, dass der Verkehr sehr schnell wieder in die Wohnquartiere von Basel und Allschwil ausweicht, weil es im Schmalspur-Tunnel nicht vorwärts geht. Die Erfahrung, dass eine einspurige Verkehrsführung nicht wirklich entlastet und innert kürzester Zeit wieder Stauprobleme entstehen, liefert gerade die Situation auf der A22 von Pratteln nach Liestal. Ein Arbeitsgebiet von kantonaler Bedeutung verlangt eine leistungsstarke Verkehrserschliessung. Die Entwicklung des für den ganzen Kanton Basel-Landschaft wichtigen Wirtschaftsgebiets Bachgraben mit zahlreichen grossen und innovativen Unternehmen boomt – und sie ist noch längst nicht abgeschlossen. Im Rahmen eines von der Wirtschaftskammer Baselland initiierten Workshop-Gesprächs mit den im Bachgraben angesiedelten Unternehmen Ende 2021 haben die Verantwortlichen deutlich unterstrichen, dass eine gute Verkehrserschliessung für sie extrem wichtig ist und sie eine nachhaltige und gute Lösung brauchen. Allein bis Ende 2023 entstehen zu den bereits bestehenden rund 5000 mindestens 4000 zusätzliche Arbeitsplätze im Areal Bachgraben. Die schon heute untragbare Verkehrssituation wird sich also noch stärker akzentuieren – zulasten der Wohngebiete und des Gewerbes. Da wird die «Schmalspur»-Variante der Regierung kaum Abhilfe leisten. Verzögerte Umsetzung wird teurer Die Gesamtkosten für das von der Regierung vorgeschlagene Minimalprojekt belaufen sich auf geschätzte 370 bis 420 Millionen Franken. Die Erweiterung auf einen Doppelspurausbau löst zusätzliche Kosten im Rahmen von 270 Millionen Franken aus. Ein späterer Ausbau mit einer zweiten Röhre, die voraussehbar ist, würde jedoch wesentlich teurer zu stehen kommen. Auf der Basis der Ergebnisse aus der nun lancierten Umfrage wird die Gruppe «Bachgraben plus» das weitere Vorgehen festlegen und sich im Sinne der Forderungen aus der HLS-Initiative weiterhin für eine tragfähige Lösung der Verkehrsanbindung des Bachgraben- Gebiets einsetzen. Daniel Schaub

4. Februar 2022 INTERVIEW Standpunkt der Wirtschaft | 3 TOURING-CLUB SCHWEIZ – Peter Goetschi ist Zentralpräsident des Touring-Clubs der Schweiz (TCS), der rund 1,5 Millionen Mitglieder hat. Im grossen Standpunkt-Interview spricht er über Parkplatzpolitik, Tempolimits und die Mobilität der Zukunft. «Es herrscht ein Trend, das Auto zu verdrängen» Standpunkt: Herr Goetschi, der TCS befindet sich im 126. Jahr seines Bestehens – wie geht es dieser schweizerischen Institution? Peter Goetschi: Dem grössten Mobilitätsclub der Schweiz geht es gut. Seit 2019 sind mehr als 90 000 neue Mitglieder zu uns gestossen. Das zeigt, dass der TCS in der Schweizer Bevölkerung grosses Vertrauen geniesst, unsere Dienstleistungen den Bedürfnissen unserer Mitglieder entsprechen und unsere Arbeit geschätzt wird. Die Pandemie hat ganz unterschiedliche Auswirkungen auf den TCS gehabt. Weniger Pannenhilfe, dafür volle Campingplätze. Wie sieht Ihr Rückblick auf diese Phase aus? Im ersten Moment galt es für den TCS, seine Funktion als Notfallorganisation aufrechtzuerhalten. Innert kürzester Zeit musste ein Grossteil der Belegschaft im Homeoffice arbeitsfähig sein – dies war eine grosse organisatorische Herausforderung. Der Ausbruch der Pandemie führte auch zu rekordhohen Zahlen bei den Hilfegesuchen. Innert kürzester Zeit erreichten rund 20 000 Anrufe unsere ETI-Zentrale. Die Pannen einsätze gingen lediglich geringfügig zurück: es gab zwar kurzfristig ein allgemein geringeres Verkehrsaufkommen, aber insgesamt waren die Schweizerinnen und Schweizer während der Pandemie öfter mit dem eigenen Auto unterwegs. Camping war 2021 und auch schon 2020 der absolute Ferientrend. Auf unseren 24 Campingplätzen verzeichneten wir 2021 knapp eine Million Übernachtungen – das ist absoluter Rekord. Aber auch im Rechtsschutzbereich und beim ETI Schutzbrief konnten wir unsere Mitglieder während der Pandemie überzeugen. Wir waren (und sind) eben auch in schwierigen Zeiten immer an der Seite unserer Mitglieder. «INSGESAMT WAREN DIE SCHWEIZERINNEN UND SCHWEIZER WÄHREND DER PANDEMIE ÖFTER MIT DEM EIGENEN AUTO UNTERWEGS.» Sie sind seit zehn Jahren Zentralpräsident des TCS. Sieht die Organisation aus Ihrer Sicht heute so aus, wie Sie es sich 2011 vorgestellt haben? Es wäre jetzt sicher vermessen zu sagen: ja, wir sind genau dort, wo ich mir dies vor zehn Jahren vorgestellt hatte. Aber ich darf sagen: Wir sind nicht weit davon entfernt. Ziel der Strukturreform, die wir 2011 beschlossen haben und in welcher ich dann auch das Präsidium des TCS übernehmen durfte, war es, die Stärken unserer föderalistischen Struktur mit Sektionen und Zentralclub besser auszuspielen und zu nutzen. Der TCS ist nicht nur in der gesamten Schweiz vertreten, nein, er ist auch in der ganzen Schweiz verwurzelt. Darauf bauen wir auf – in unseren Dienstleistungen, aber auch in unserem politischen Engagement für unsere Mitglieder. Wie wird die Mobilitätswelt in zehn Jahren aussehen und welche Rolle spielt der TCS darin? Der TCS wird auch in Zukunft gefragt sein. Pannen wird es immer Peter Goetschi, Zentralpräsident des Touring-Clubs der Schweiz (TCS), will die Weiterentwicklung der Verkehrsträger nicht ideologisch angehen, sondern die verschiedenen Verkehrsträger gemäss ihren Stärken einsetzen. Bild: zVg geben, auf Reisen will man sicher sein, ebenso wird die Verkehrserziehung von Kindern immer wichtig bleiben. Beistand bei rechtlichen Problemen werden unsere Mitglieder auch in Zukunft brauchen und Ferien auf dem Campingplatz werden wohl in 50 Jahren noch im Trend liegen. Es ist aber wichtig, die Dienstleistungen stetig weiterzuentwickeln. So haben wir zum Beispiel unser Mitgliedschaftsmodell vor einigen Jahren vom Fahrzeug auf die Person ausgelegt – dies um den geänderten Mobilitätsgewohnheiten unserer Mitglieder gerecht zu werden. Letztere sind heute immer mehr multimodal unterwegs und dem werden wir in Zukunft noch vermehrt Rechnung tragen. Eines der aktuell grössten Probleme für viele Verkehrsteilnehmende ist der Dauerstau. Wo sehen Sie Möglichkeiten, mehr Kapazitäten auf der Strasse zu schaffen? Die Erfahrungen während der Pandemie haben das Potenzial der Flexibilisierung von Büro- und Schulzeiten sowie des Homeoffice zum Brechen von Verkehrsspitzen aufgezeigt. Solche Massnahmen können dazu beitragen, die Verkehrsinfrastruktur zu entlasten. Zusätzlich braucht es smarte Verkehrsleitsysteme, wichtig ist ebenso die technologische Entwicklung in den Fahrzeugen und deren Vernetzung. Letztlich muss aber auch die Verkehrsinfrastruktur den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und technologischen Entwicklungen stetig angepasst werden. Der fossile Verbrennungsmotor ist ein Auslaufmodell. Wie begegnet der TCS dieser Veränderung? Für die individuelle Mobilität steht mittelfristig deren ökologische Transition im Fokus, wobei – zumindest vorläufig – die batteriebetriebene Elektro mobilität im Zentrum steht. Diese Technologie ist verfügbar und zuverlässig und sie muss nun für alle leicht zugänglich gemacht werden. In der Schweiz braucht es dazu in erster Linie eine leistungsfähige Ladeinfrastruktur für alle – für Mieterinnen und Mieter, Eigentümerinnen und Eigentümer, Stadt- und Landbewohnende und auch für die Arbeitnehmenden. Jedes Fahrzeug braucht Strassen. Ist das Schweizer Strassennetz fertig gebaut? Nein. Die Strasseninfrastruktur muss den Bedürfnissen der wachsenden Bevölkerung angepasst werden. Das ist ein stetiger Prozess. Eine Weiche dafür hat die Schweiz mit dem Ja zum NAF 2017 gestellt. Damit wird die Strasseninfrastruktur auf die Grundlage eines klar definierten Finanzierungsmodells gestellt und wichtige Engpassbeseitigungen auf den Nationalstrassen, die Weiterführung der Agglomerationsprogramme und die Integration von 400 Kilometern Kantonsstrassen in das Nationalstrassennetz langfristig gesichert. Die im NAF definierten Projekte müssen speditiv vorangetrieben werden. Das beobachten wir genau. Welche Verkehrswege brauchen wir in 20 Jahren und wie sehen diese aus? Wir werden weiterhin auf Strasse, Schiene und in der Luft unterwegs sein. Jedoch viel multimodaler. Das heisst, wir werden verstärkt unterschiedliche Verkehrsmittel nutzen und miteinander kombinieren. «DIE STRASSEN- INFRASTRUKTUR MUSS DEN BEDÜRFNISSEN DER WACHSENDEN BEVÖLKERUNG ANGEPASST WERDEN. DAS IST EIN STETIGER PROZESS.» Mehr E-Mobilität heisst auch, weniger Steuereinnahmen durch Benzin. Woher soll das Geld kommen, um künftig die Strassen infrastruktur zu bezahlen? Und sagen Sie bitte nicht: durch Mobility Pricing. Der TCS lehnt eine Lenkung über den Preis ab. Verkehrsspitzen durch höhere Spitzenstundenpreise zu brechen, wäre unsozial und würde vor allem Menschen mit unflexiblen Arbeitszeiten treffen. Hingegen ist es so, dass mittelfristig die Mineralölsteuer und der Mineral ölsteuerzusatz, die heute die Strassen finanzierung sicherstellen, ersetzt werden müssen. Hier können wir uns eine Kilometerabgabe vorstellen – aber ganz klar: zur Finanzierung und nicht zur Verkehrslenkung. Wissen Sie, seit wann es in der Schweiz Tempolimits gibt? Das ist seit 1959 der Fall. Richtig, ab 1932 gab es keine Tempolimits mehr in der Schweiz. 1959 wurde dann innerorts Tempo 60 eingeführt und seither wird über das Thema diskutiert und gestritten. Aktuell gerade über generell Tempo 30. Was halten Sie vom Trend, in Städten grundsätzlich Tempo 30 einzuführen? Wir fordern ein differenziertes Geschwindigkeitsregime innerorts. Während auf siedlungsorientierten Strassen Tempo 30 und in Begegnungszonen auch Tempo 20 eingeführt werden kann, muss auf verkehrsorientierten Strassen weiterhin Tempo 50 gelten. Es ist wichtig, die Hierarchie des Strassennetzes zu respektieren und seine Funktionalität auf Schweizer Ebene zu gewährleisten. Diese Unterscheidung wird laut einer Umfrage des Link-Instituts, die wir letzten Dezember durchführen liessen, auch von drei Vierteln der Schweizer Bevölkerung befürwortet (vgl. Artikel auf Seite 2). Im Kanton Basel-Landschaft soll in Bottmingen, Oberwil, Therwil und Maisprach auf Abschnitten von Kantonsstrassen Tempo 30 eingeführt werden. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung? Ob in Städten, in der Agglomeration oder auch im Dorf: auf Hauptverkehrsachsen soll weiterhin Tempo 50 gelten, auf siedlungsorientierten Strassen soll Tempo 30 oder gar 20 möglich sein. Ein differenziertes Temporegime hat positive Auswirkungen auf den Verkehrsfluss und auch auf die Verkehrssicherheit. Denn wenn überall Tempo 30 gilt, gibt es Ausweichverkehr in die Quartiere, was dort zu mehr Verkehr, mehr Lärm und letztlich auch zu mehr Unfällen führen wird. «DASS DAMIT DIE TATSACHEN – 75 PROZENT DER PERSONENKILOMETER WERDEN HEUTE IM AUTO ZURÜCKGELEGT – ALS AUCH DER VOLKSWILLE MISSACHTET WERDEN, WIRD GEFLISSENTLICH ÜBERGANGEN.» In seinem Bericht zur städtischen Mobilität formuliert der TCS: «Oberflächenparkplätze in Wohnquartieren dürfen nicht einfach aufgehoben werden, sondern müssen durch entsprechende Quartierparkhäuser ersetzt werden.» Wieso passiert das nicht? Dies ist effektiv eine grosse Herausforderung. Insbesondere in Städten und Agglomerationen herrscht heute ein Trend, das Auto auch mittels der Parkplatzpolitik zu verdrängen. Dass damit die Tatsachen – 75 Prozent der Personenkilometer werden heute im Auto zurückgelegt – als auch der Volkswille missachtet werden, wird geflissentlich übergangen. Und darüber hinaus ist es auch ein sehr kurzfristiges Denken. Mit der Revolution, die zurzeit im Automobilsektor mit der Elektrifizierung und der Automatisierung stattfindet, werden sich auch die Grenzen zwischen öffentlichem und individuellem Verkehr vermischen und zu neuen Konzepten führen. Ein halbleerer Dieselbus um 22 Uhr ist dann sicher nicht mehr vertretbar. Werfen wir zum Schluss einen Blick in die Kristallkugel. Wie sieht die Mobilität der Zukunft in der Schweiz aus? Sie wird resolut multimodal, nachhaltig und noch sicherer sein. Dank Ökologisierung, Automatisierung und Digitalisierung können die bewährten und auch neue Verkehrsträger zunehmend effizienter verbunden und kombiniert werden. Wichtig ist dabei, dass wir die Weiterentwicklung der Verkehrsträger nicht ideologisch angehen, sondern die verschiedenen Verkehrsträger gemäss ihren Stärken einsetzen. Interview: Patrick Herr ZUR PERSON Der Freiburger Peter Goetschi wurde an der ausserordentlichen Delegiertenversammlung vom 25. November 2011 zum Zentralpräsidenten des TCS gewählt. Seither wurde er dreimal im Amt bestätigt. Vor seiner Wahl war Peter Goetschi als selbstständiger Rechtsanwalt und für die KPMG Schweiz tätig. Zudem präsidierte er während sechs Jahren die Sektion Freiburg des TCS. In seiner aktuellen Funktion als Zentralpräsident des TCS präsidiert Peter Goetschi auch die Assista Rechtsschutz AG, die TAS Versicherungs AG, die Mobilitäts-Akademie AG sowie die TCS Training & Freizeit AG. International vertritt er den TCS in verschiedenen Gremien der FIA, so als Vizepräsident der FIA Region I und Mitglied des World Council for Automobile Mobility & Tourism. www.tcs.ch

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